John Fowles, die Bohème, die Musik und die Einfachheit

Quartier Latin in Paris, Adolfo Hohensteins Entwurf zur Uraufführung von La Bohème 1896. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei).

Quartier Latin in Paris, Adolfo Hohensteins Entwurf zur Uraufführung von La Bohème 1896. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei).

Neulich in der Oper, La Bohème, von Puccini: Die betörende Wirkung seiner Musik, von menschlichen Stimmen kunstvoll intoniert, die Bilder in Kopf und Seele. Schon bei den ersten Tönen des Liebespaars Mimi und Rodolfo die ersten Tränen in uns. Nicht nur in der Ahnung, dass ihre Geschichte unsäglich traurig ausgehen wird, sondern verstärkt durch Puccinis kaum erschöpfend analysierbares stilistisches Raffinement von Komposition und Instrumentation, das die Gefühle der meisten Menschen unmittelbar erreicht, ja sogar bestimmt. Manipulation? Und »Kitsch«, wie Adorno gesagt hätte? Vielleicht. Aber es klingen »einfach« archetypische Muster mit, deren Wirkungskraft sich kaum jemand entziehen kann.

Was das mit John Fowles zu tun hat? Nun, zunächst einmal erzählt er, was die Bohème angeht, in mehreren seiner Werke gerne recht ironisch von bekennenden Existenzialisten, wie er selbst lange einer war. Im Magus gipfelt es darin, dass er die ganze sich nach Pariser Vorbild existenzialistisch gebärdende Bohème im Oxford seiner Studienzeit und in der Londoner Charlotte Street als zwar liebenswerte, aber törichte Modeerscheinung schildert. Seine im letzten Teil des Romans auftauchende Figur der Möchtegern-Malerin Joan, die lieber »alter Kämpe« genannt werden will, ist das Pendant zum verkrachten Maler-Bariton Marcello bei Puccini. Beide machen sich mit ihrer »Kunst« ziemlich lächerlich, der letztere heruntergekommen auf die Stufe eines Plakatmalers, die erstere auf grelle Ölbilder mit sexuellen, fötalen Motiven, erweisen sich andererseits als zutiefst warmherzig, das heißt menschlich.

Aber das ist nicht alles. Fowles verwendet in fast all seinen Büchern gerne Metaphern aus der Welt der Kunst, vor allem der Malerei, aber auch der Musik. Nicht um zu imponieren – das vielleicht auch, dann jedoch nur wenn dies zum Charakter seiner Figuren gehört wie beim personifizierten Magus Maurice Conchis –, sondern um bei einer aufmerksamen Leserschaft unweigerlich die Reaktion hervorzurufen: ja, so sehe ich diese oder jene besondere Facette des Gemeinten auf Anhieb genau vor mir. Selbstredend haftet jeder subtileren Anspielung immer auch etwas Elitäres, Insiderhaftes an, aber die meisten RomanleserInnen scheinen sehr versiert darin, über so etwas großzügig hinwegzusehen. Mir selber ist keine Musikmetapher einleuchtender als etwa die im Magus, wo Fowles ein Grillenzirpen mit der »Webern’schen Musik ohne jede Konsistenz« vergleicht – der Zwölftöner Webern bestach halt mit seinen schlank besetzten Miniaturen nicht wie etwa Bruckner durch seine gewaltigen symphonischen Eruptionen.

Giacomo Puccini (1858–1924). Foto: A. Dupont 1908. Quelle: Library Of Congress, USA (gemeinfrei).

Giacomo Puccini (1858–1924). Foto: A. Dupont 1908. Quelle: Library Of Congress, USA (gemeinfrei).

Worauf ich hinauswill, ist etwas Anderes. Ich behaupte, im Magus steckt mehr von Puccinis Oper, als auf den ersten Blick plausibel erscheint. Schon im ersten Bild der Bohème singt Mimi, die Blumenstickerin, in großer Bescheidenheit und mit den schönsten Tönen davon, wie sie Rosen und Lilien stickt. Rosen und Lilien? Das sind die traditionellen Blumen des Brautstrauchs, zugleich Liebe und Unschuld symbolisierend. Und es sind die richtigen Namen der beiden Schwestern, mit denen der junge »Held« Nicholas in Fowles‘ Magus Liebesgeschichten erlebt, die ihn schließlich das Fürchten lehren. Darüber hinaus wird Mimis Blumensymbolik im Magus auf die Spitze getrieben, als Nicholas an einem Grab auf einem Athener Friedhof Rosen und Lilien niedergelegt findet und daraus entsprechende Schlüsse ziehen muss. Also Plot-immanent kein Zufall. Wohl aber die Parallele zu Puccini?

Wohl kaum: Im letzten Akt der Oper versteht sich die sterbende Mimi als eine Schwalbe, die »einsam zum ärmlichen Nest zurückkehrt«, zu ihren »falschen (= Kunst-)Blumen«. Hirondelle, französisch Schwalbe, ist im Magus der Deckname der Stewardess Alison, Fowles‘ »eigentlicher Heldin« (Tagebucheintrag vom 7. September 1964). Das italienische Wort für Schwalbe ist zugleich der Titel von Puccinis später, zu Unrecht selten gespielter Oper La Rondine mit ihrer wiederkehrenden schönen Textzeile »Vielleicht wirst du wie eine Schwalbe übers Meer ziehen, dem Land der Träume, der Sonne, der Liebe entgegen«.
Die Oper ist vor allem in ihrem ersten Akt geradezu eine Umkehrung der Situation in La Bohème: Wo in dieser die Männer-WG der Künstler ihr kärgliches Dasein beklagt, ist es in jener eine Theaterfrauen-WG, die uns ihre Beziehungsprobleme vorführt. Am Schluss ist es wiederum die weibliche Hauptfigur, Magda, die zwar nicht wie Mimi stirbt, aber alleingelassen in absoluter Tristesse zurückbleibt.
Eine letzte Parallele zu Fowles: Für sein Spätwerk hat Puccini drei inhaltlich und musikalisch grundlegend verschiedene Schlüsse komponiert! Das entspricht exakt Fowles‘ Intentionen bei den diversen Schlussvarianten seines Romans Die Geliebte des französischen Leutnants. Puccini zweifelte offenbar genau wie drei Generationen später Fowles, dass die Kunst der Zukunft, soweit sie Geschichten erzählt, auch in Töne gesetzte, immerfort ein großes Finale, festgelegte Schlüsse, starre Endziele braucht. Bei der Oper waren es allerdings seit jeher nie zwanghaft Happy Ends, eher im Gegenteil.

Falls es noch eines Belegs bedarf, der meine These erhärtet, dass Puccini für Fowles eine Inspiration war – darüber hinaus stilistisch ein Wegbereiter der Moderne –, sei sein Tagebucheintrag vom 24. Oktober 1958, mitten in seiner Arbeit am Magus, zitiert. Nach der Lektüre des bekanntesten Buchs eines geistesverwandten Schriftstellerkollegen konstatiert er: »It always takes you by surprise. Like Puccini. […] The more romantic one’s material, the plainer one’s rendition. And vice versa.« Je romantischer der Stoff, desto einfacher die Ausführung. Und umgekehrt.

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Michael Lehmann ist Übersetzer, spezialisiert auf Neufassungen herausragender deutscher und englischer Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts. In modernem Deutsch, ungekürzt, für neue Lesegenerationen.