Scrase/Mieder: Nichts konnte schlimmer sein als Auschwitz! (Übersetzung: Michael Lehmann)

David Scrase, Wolfgang Mieder (Hg.), »Nichts konnte schlimmer sein als Auschwitz!« (The Holocaust. Personal Accounts, USA 2001), a. d. Engl. von Michael Lehmann; darin persönliche Überlebensberichte der AutorInnen Aranka Siegal, Yehudi Lindeman, Clinton Gardner, Marion Pritchard und andere. Donat Verlag 2016.
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»Nichts konnte schlimmer sein als Auschwitz!« (herausgegeben von David Scrase und Wolfgang Mieder)

Das Projekt ist nach der Wilhelm-Lehmann-Biographie von David Scrase Michael Lehmanns zweite Übersetzung eines Buchs des in den USA lehrenden Engländers, das dieser zusammen mit seinem deutsch-amerikanischen Professorenkollegen Wolfgang Mieder herausgegeben hat. Hierin zeigt sich eindrucksvoll das zweite große Gebiet, auf dem der in Deutschland vorwiegend als Germanist bekannte Scrase in den letzten Jahrzehnten gearbeitet hat, die Holocaust-Forschung. Als Gründungsdirektor des Center for Holocaust Studies an der Universität von Vermont/USA hat er zahlreiche Studien zum Thema initiiert und herausgegeben. Das vorliegende Buch stellt als Novum authentischen Berichten von in den USA wohnhaften Überlebenden ebensolche Berichte ihrer amerikanischen Befreier an die Seite.

Eine der BerichterstatterInnen ist Aranka Siegal. Aus dem Vorwort von David Scrase: Aranka Siegal zeichnete ihre schrecklichen Kindheitserlebnisse bislang in zwei exzellenten Büchern auf. Upon the Head of the Goat (USA 1981, dt. Weißt du nicht, dass du Jüdin bist, 1985) erzählt von ihrem Leben in Ungarn bis zu dem Zeitpunkt, als sich die Tür des Viehwaggons, der sie nach Auschwitz transportierte, mit lautem Knall schloss. Grace in the Wilderness (USA 1985, als Hörbuch 1998, beides bisher nicht auf Deutsch) beginnt kurz vor der Befreiung von Bergen-Belsen. Obwohl dieses Buch sich auch um Aranka Siegals Erlebnisse in den Lagern dreht, liegt der Schwerpunkt auf ihrer Zeit in Schweden, wo sie vor ihrer endgültigen Emigration in die USA buchstäblich ins Leben zurückgeholt wurde. Ihr Rückblick darauf, was sie zwischen der Deportation und ihrer Befreiung aus Bergen-Belsen durchmachte, erscheint hier zum ersten Mal – und zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.

Aranka Siegals Überlebensbericht (Anfang)

Alle Neuigkeiten in unserer Stadt, gute wie schlechte, wurden vom öffentlichen Ausrufer geliefert. Jeden Tag schlug er auf dem Marktplatz seine Trommel, und wir ließen alles stehen und liegen und rannten hin, kamen atemlos an, und unsere Herzen hämmerten bei jedem Schlag der Trommel mit. Wenn die Menge auf fünfzig oder mehr Menschen angewachsen war, hob der Ausrufer, der eine offizielle graue Uniform trug und breitbeinig dastand, seinen Kopf und sah über uns mit offenkundiger Selbstzufriedenheit hinweg. Während wir ängstlich warteten, nahm er sich Zeit, die Schriftrolle zu entrollen, sich seine Kehle frei zu räuspern und so in Positur zu werfen, dass er überlegen wirkte. Erst wenn alles zu seiner Zufriedenheit war, las er mit bedeutungsvoller Stimme endlich die jüngsten Dekrete vor. Er war ein kleiner Mann, konnte sich aber so aufblasen, dass er bestimmt zehn Zentimeter größer aussah. Sein Bild ist in mein Gedächtnis eingraviert, ich könnte ihn noch fünfzig Jahre später in einer Menschenmenge wiedererkennen.

So verkündete der Ausrufer etwa die Generalmobilmachung, die meinen Vater zur Armee holte. Und nachdem Hitler auf Ungarn Druck ausübte und für die Juden Einschränkungen anfingen, verkündete der Ausrufer, dass Juden bestimmte Stellungen bei Banken, in der Verwaltung oder Regierung nicht mehr behalten und an Universitäten weder studieren noch lehren durften. Diese Einschränkungen kamen schrittweise und schienen nicht lebensbedrohlich. […]

1942 aber war das abendliche Schlafengehen zur Herausforderung geworden. Die Furcht vor neuen Dekreten, die unser Leben weiter einschränkten, ließ Mutter sich im Bett hin und her wälzen. Seit unser Vater weggebracht worden war, konnte ich ständig ihre Ruhelosigkeit im Zimmer nebenan hören, wenn sie auf den Morgen wartete.

Erschöpft von Sorge und Schlafmangel, pflegte Mutter meine Schwester Iboya oder mich oder auch uns beide auf den Marktplatz zu schicken, ermahnte uns, so schnell zu rennen, dass wir vorne zu stehen kämen, und nur ja gut zuzuhören, damit wir uns an jedes Wort erinnern konnten. Sie selber blieb draußen vor dem Tor, wartete mit den zwei Kleinen an ihrer Seite, bis wir zurückgerannt kamen und die Neuigkeiten wiederholten – gewöhnlich waren es schlechte. Wenn ich ihr Gesicht die Farbe von rot nach weiß wechseln und ihren Körper zusammensacken sah, war ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr zu zeigen, wie akkurat ich die Neuigkeiten berichten konnte, und dem, den Schlag zu dämpfen. Die zwei Kleinen, nicht in der Lage, die grausamen Wörter der Erwachsenen zu verstehen, beobachteten das Gesicht unserer Mutter und verstanden ganz klar den Ernst der Botschaft.

[Stand vor Schlussredaktion]