Auszüge aus Johannes Bobrowski (von David Scrase)
In Vorbereitung

Mit Ausnahme von Günter Grass ist kein anderer deutscher Nachkriegsschriftsteller so eng mit einer bestimmten geographischen Region verbunden wie Johannes Bobrowski. Beide Autoren wurden in jener Gegend Osteuropas geboren und erzogen, in der sich die unterschiedlichsten ethnischen, religiösen und sprachlichen Milieus über Hunderte von Jahren hinweg von deutschen, polnischen, litauischen und russischen Regimes regiert und verwaltet sahen. Faktisch verschwand aufgrund des verheerenden Geschehens im Zweiten Weltkrieg das deutsche Element völlig aus diesem Gebiet, das heute von Polen in seinen gegenwärtigen Grenzen, von Teilen Westrußlands und den drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen gebildet wird.

Grass hat in seiner Danziger Trilogie (Die Blechtrommel, 1958, Katz und Maus, 1961, und Hundejahre, 1962) Charakter, Atmosphäre und Geist von Danzig und seiner Umgebung in den ersten vier bis fünf Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eingefangen und festgehalten. Bobrowskis Gebiet liegt weiter östlich, weitgehend auf die Städte und Dörfer konzentriert, die er in seiner Kindheit kannte (Tilsit und Königsberg in Ostpreußen, Motzischken und Willkischken im südlichen Litauen), aber es erstreckt sich im geographischen Sinne weiter und ist sogar auf noch verwirrendere Weise unterschiedlich, weil es durch die Jahrhunderte zurück bis in vorgeschichtliche Zeit reicht. Es ist diese Mixtur aus familiären, geographischen und historischen (und daher kulturellen und ethnischen) Einflüssen, die Bobrowskis Werk schwerer fassen läßt und eine Kenntnis dieser Einflüsse für das Verständnis seines Werks voraussetzt. […]

Generationen von Bobrowskis residierten jahrhundertelang in Galizien, Litauen und Masowien. Tilsit, Bobrowskis Geburtsstadt, lag seinerzeit an der östlichsten Grenze des Deutschen Reichs, an der schon erwähnten Memel. Sowohl in seinen zahlreichen autobiographischen Kurzberichten als auch in seinen erzählenden und dichterischen Schriften hört Bobrowski nie auf, den polyglotten, multiethnischen und -religiösen Hintergrund der Gegend, aus der er kam, zu betonen. […]

Die Bedeutsamkeit dieser Territorien und ihrer Geschichte für Bobrowski wird von einer aus einem Atlas herausgerissenen Landkarte beredt unterstrichen, die nach dem Tod des Autors bei seinen Unterlagen gefunden wurde. Darauf hatte Bobrowski Mitteleuropa mit deutlichen Tintenstrichen in durchnumerierte Zonen unterteilt, die für sein Werk die größte Bedeutung hatten. Zone 1 umfaßt seine Geburtsgegend Ostpreußen; Zone 2 die baltischen Länder; Zone 3 Rußland bis zum Ural und zum Schwarzen Meer; Zone 4 Polen; und Zone 5 – aber das ist kaum mit Sicherheit anzugeben, da die Karte jenseits des Ausrisses knapp westlich von Danzig nicht weiterreicht – erstreckt sich vom polnischen Korridor nach Westen und geht wahrscheinlich bis Berlin, wo Bobrowski den letzten Teil seines kurzen Lebens verbrachte und wo er, nebenbei bemerkt, den Erzähler in seinem Roman Levins Mühle ansiedelt.

Bobrowski nannte dieses ganze Gebiet mit Ausnahme der fünften Zone Sarmatien. Es war die Region, die von dem Geographen und Astronomen Ptolemäus aus Alexandria im zweiten Jahrhundert v. Chr. als Sarmatia bezeichnet wurde und die Landstriche zwischen Weichsel und Wolga, zwischen Ostsee, Kaspischem und Schwarzem Meer umfaßt, ein Gebiet, das um diese Zeit von den nomadischen Viehzüchterstämmen der Sarmaten bewohnt war. Praktisch alles, was Bobrowski je schrieb, ist ohne einen Begriff von den historischen und geographischen Verhältnissen Deutschlands und seiner östlichen Nachbarn und ohne Würdigung dieser Verhältnisse nicht zu lesen. […]

Bobrowski vermittelte zwar häufig den Eindruck eines unbeschwerten, geselligen, aus sich herausgehenden, wohlwollenden Menschen; auch erzielte er verdientermaßen zwar Erfolg, wenn auch ein bißchen spät, doch immerhin in beiden Teilen Deutschlands zugleich; aber obwohl sein Familienleben als ruhig und geglückt zu bezeichnen war und obwohl seine Behäbigkeit und sein exzessives Trinken einfach Teil seines umgänglichen und jovialen Wesens schienen, zeichnen diejenigen, die ihn gut kannten, ein anderes Bild von ihm. Der westdeutsche Schriftsteller Christoph Meckel, der oft in Ostberlin war und mit Bobrowski seit 1960 in engem Kontakt stand, schrieb 1978 scharfsichtige und treffende Erinnerungen, in denen er Bobrowskis ständige Müdigkeit beschreibt, seine Hypochondrie, seine Sorge um den Zustand seiner Leber (Meckel brachte, wie andere auch, aus dem Westen immer Arzneimittel mit) und seine wachsenden Schwierigkeiten, mit dem ständig stärkeren beruflichen, schöpferischen und gesellschaftlichen Druck umzugehen.