Primeln im Januar – Die Website der Fowles-Gesellschaft geht online

Als Sam die Vorhänge zurückzog, flutete der Morgen über Charles herein, wie es sich Mrs. Poulteney, um diese Zeit noch vernehmbar schlafend, für sich nach ihrem Tod und – nach einem angemessen würdevollen Innehalten – vom Paradies gewünscht hätte. Etwa ein dutzend Mal im Jahr beschert das milde Klima an der Küste von Dorset solche Tage, die nicht nur angenehm und für die Jahreszeit untypisch mild, sondern hinreißende Überbleibsel mediterraner Wärme und Leuchtkraft sind. Dann spielt die Natur ein bisschen verrückt. Spinnen, die längst ihren Winterschlaf halten sollten, laufen über die warmen Novembersteine, Amseln singen im Dezember, Primeln brechen im Januar hervor, und der März imitiert den Juni.
Charles setzte sich auf, zog sich die Nachtmütze vom Kopf, hieß Sam die Fenster aufreißen und starrte, die Hände aufgestützt, ins Sonnenlicht, das sich ins Zimmer ergoss. Die leichte Verstimmung, die ihn am Vortag niedergedrückt hatte, war mit den Wolken verflogen.

z.B. bei eBook.deSo beginnt Kapitel sieben von John Fowles‘ stilbildendem Roman Die Geliebte des französischen Leutnants. Als wir auf unserer kleinen Recherche-Reise Ende Januar 2018 in Lyme Regis ankamen, der zweiten Heimat des Schriftstellers, ging es nicht ganz so mediterran zu. Aber es war immerhin erheblich milder als in Deutschland, und man hatte unwillkürlich jene Liebeserklärung an Wetter und Natur der südwestenglischen Küstenlandschaft vor Augen – ein Winterklima, das nicht nur bei Fowles‘ Romanfigur Charles Smithson sogar Depressionen zu vertreiben vermag. In dem liebenswert-altmodischen Seebad Lyme Regis findet sich noch fast alles, was Fowles im Roman akribisch beschreibt. Da ist natürlich an erster Stelle der Cobb zu nennen, die gewaltige Kaimauer, primitiv und doch komplex, riesenhaft und doch zart, voll feiner Rundungen und Wölbungen wie bei einem Henry Moore oder Michelangelo (Kapitel eins). [Neuübersetzung der Fowles-Zitate von Michael Lehmann]

Der Cobb war der (un)heimliche Star am Beginn des Romans und der gleichnamigen Verfilmung mit Meryl Streep von 1980, auch im Jane-Austen-Roman Persuasion/Überredung. Den unglaublich passenden Namen Cobb unterschlägt die alte deutsche Version des Fowles-Buchs beharrlich –

John Fowles: Dies Herz für Liebe nicht gezämtFriede auch der Asche des ebenso unglaublichen ersten deutschen Verlagstitels von 1970. War dies der Beginn der wechselseitigen, nun ja: Missverständnisse zwischen Fowles und seinem deutschen Erstverlag? Ich kenne dazu keine Rückäußerung des Autors, wohl aber zu den mannigfachen Geschmacksverirrungen US-amerikanischer Verwerter seiner Werke.


Underhill Farm (Foto: Lyme Regis Museum)

Underhill Farm (Foto: Lyme Regis Museum)

In Lyme findet man vor allem die bei Naturfreak Fowles bezeichnenderweise noch detailreicher und präziser geschilderte wilde Landschaft, in die sein geliebtes, von seiner Frau Eliz(abeth) dagegen allmählich gehasstes Refugium Underhill Farm eingebettet liegt, nämlich hart an den Steilhängen der Jurassic Coast, die sein Fossiliensammler-Mekka ist.

Underhill bewohnte John Fowles in der Entstehungszeit des Romans drei Jahre lang, ehe ein Erdrutsch Teile seines Grundstücks den Hang hinab verschwinden ließ und er für den Rest seines Lebens nach Lyme hinein zog. Dort steht sein denkmalgeschütztes Haus Belmont am oberen Ende der überaus steilen Pound Street – man kann sich die Mühen vorstellen, unter denen sich auch von hier aus die beiden immer älter werdenden Bewohner die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Umgebung, aber auch so Profanes wie die Einkaufsmöglichkeiten tief unten im Städtchen förmlich erkämpfen mussten.

John Fowles vor Haus Belmont um die Jahrtausendwende (Foto: Anthony Georgieff)

John Fowles in seiner Bibliothek (Foto: Anthony Georgieff)

John Fowles in seiner Bibliothek (Foto: Anthony Georgieff)

Belmont war zwar zu Fowles‘ Einzug in genauso schlechtem baulichem Zustand wie Underhill, aber es erlaubte dem immer berühmter werdenden Ehepaar, die Massen an Neu-Gierigen aus aller Welt zu empfangen, die Fowles nicht nur huldigten, sondern vor allem als Studien-, ja Sezierobjekt unters Mikroskop ihrer jeweiligen Wissenschaft legten. Der gefeierte erste Roman der angelsächsischen Postmoderne forderte eben seinen Tribut. Fowles‘ zunehmendes und nicht etwa kokettierendes Klagen darüber füllt viele seiner Journalseiten.

Heute ist das Haus schön und fachgerecht saniert, man kann es vom Landmark Trust, einer englandweiten gemeinnützigen Stiftung, als Ferienhaus mieten. So war es auch jetzt leider belegt. Eine von außen sichtbare Gedenktafel habe ich nicht gefunden, wenngleich Fowles die letzten 37 Jahre bis zu seinem Tod darin gelebt hat und wenngleich es sonst im Ort von Plaketten für lokale Größen nur so wimmelt. Fowles konnte von dort oben immer noch aufs Meer blicken, wie es so viele seiner Figuren an den Dreh- und Angelpunkten seiner wichtigsten Erzählwerke immer wieder gedankenverloren tun.

Belmont (Foto: Landmark Trust)

Es mag etwas kitschig klingen (nicht ganz so kitschig zwar wie das oben gezeigte alte Buchcover), dass mich im selben Moment, als ich Fowles‘ Blickrichtung aufs Meer zu rekonstruieren versuchte (oder eben den seiner Figuren Sarah Woodruff und Charles Smithson, oder womöglich aufs Mittelmeer den des Magus Maurice Conchis und seines Versuchskaninchens, des jungen Nicholas Urfe), die freudige Nachricht erreichte, dass zu guter Letzt die Website der Deutschen John-Fowles-Gesellschaft (DJFG) online gegangen ist. Und sie ist, das sagen zumindest eine Reihe erster Glückwünsche, »not bad« geworden und vor allem sehr informativ. Ein Grund zum Feiern also, und das taten wir kräftig im Brighton Metropole, wo ein runder Geburtstag unseres Mitglieds der ersten Stunde, Karin Janzon, unserer Kontaktfrau zu Fowles‘ Londoner Agentur, auf englische Art höchst formvollendet begangen wurde.

Party im Brighton Metropole

Karin Janzon und Familie: Party im Brighton Metropole (Foto: Vicky)

Die Erstellung der DJFG-Website ist eines der Projekte des Fördervereins für Regionale Entwicklung, Potsdam, durchgeführt von Studierenden und Auszubildenden entsprechender Fachrichtungen. Ein großes Dankeschön geht deshalb an Marie Schöner, Kristin Jänicke und Michelle Budick, sowie an alle anderen genannten und ungenannten Beteiligten.

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Michael Lehmann ist Übersetzer, spezialisiert auf Neufassungen herausragender deutscher und englischer Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts. In modernem Deutsch, ungekürzt, für neue Lesegenerationen.