Kritische Wortspielereien bei Jean Paul?

Jean Paul. Von Friedrich Meier 1810. Alte Nationalgalerie Berlin. (Public Domain)

In der Debatte über Kinderbuchklassiker von Astrid Lindgren bis hin zum gerade verstorbenen Otfried Preußler geht es um die Frage der nachträglichen Korrektur eines als diskriminierend ge­wer­te­ten Wortgebrauchs wie z. B. Neger oder Hexe bei heutigen Neuausgaben. Persönlich, muss ich gestehen, hatte ich mir als Kind immer sehnlichst gewünscht, auch einen Negerkönig zum Vater zu haben wie Pippi Langstrumpf. Ich ahnte damals nicht, dass das N-Wort einmal sogar Verbrechen genannt werden würde (so die Autorin Sharon Dodua Otoo in der taz).

Bei meiner Neufassung der Flegeljahre (original 1804) hätte ich unter Anlegen der Political-Correctness-Elle über ein paar Stellen des Romans stolpern können, wenngleich in Anbetracht des zeitlichen Abstands überraschend selten – Jean Paul war eben in mancher Hinsicht seiner Zeit voraus. Ich muss aber ein zweites Geständnis machen, nämlich dass ich während der Arbeit an der Übertragung einfach nicht gestolpert bin. Jedenfalls nicht über solcherlei Stolpersteine.

Gerade beim Übertragen kompletter Werke aus einer Fremdsprache oder, wie in diesem Fall, älteren Gestalt der eigenen Sprache ist es die vordringliche Aufgabe, durchgängig eine gut lesbare, verständliche Fassung herzustellen, dabei schon auch möglichst gesellschaftlich akzeptierte Formulierungen zu wählen – es sei denn, man will bewusst provozieren –, nicht aber bloß einäugig nach zu säubernden Stellen zu fahnden. Denn all dies muss, da Übersetzen nun einmal eine dienende Funktion hat, vor allem im auktorialen Sinn und Geist geschehen, und klar ist doch, dass ernstzunehmende AutorInnen mit jedem ihrer geschriebenen Worte ganz bestimmte Absichten verbinden. Diese Absichten bewusst zu verfälschen, verbietet sich grundsätzlich, jedenfalls für ÜbersetzerInnen.

Im ersten Band der Flegeljahre fallen spontan drei kritische Passagen auf

Im ersten Kapitel vermacht der reiche Van der Kabel der Judenschaft seinen Platz in der Hofkirche. (Kabel ist christlicher Geistlicher gewesen, somit sozusagen von der Konkurrenz.) Ist das nur ein typisch Jean Paul’scher Scherz oder diskriminierend, ja antisemitisch bzw. all dies zusammen?

Im Roman selber ist es nur ein weiterer gezielter Affront des so mürrisch-sittlichen Erblassers. Denn die meisten seiner Erb-Anteile sind ohne jede wohltätige Wirkung für ihre Adressaten. Kabels Spott ergießt sich gleichmäßig über unterschiedlichste Individuen oder Gruppen, so auch über die Judenschaft.

Durfte Kabel/Jean Paul das? Heute, zweihundert bzw. tausend Jahre deutscher Geschichte der Judenverfolgung weiter, dürfte er es jedenfalls nicht ungestraft durch heftige mediale Kritik.

In Kapitel 7 betritt Goldine, eine bildschöne, aber bucklige Jüdin, die Szene. Abgesehen davon, dass sie im weiteren Verlauf durchweg positiv geschildert wird, bleibt ihr Buckel eben doch ein in der Literatur aus früherer Zeit häufig mit jüdischen Protagonisten verknüpftes Klischee, übrigens nicht anders das der Schönheit ihrer Frauen.

Unbedachtheit? Bei einem Denker wie Jean Paul kaum anzunehmen. Eher eine gewollte Typisierung, die sich über die mögliche Kränkung gnadenlos hinwegsetzt.

Von dem Bild zu schweigen, das sich auch bei nicht Betroffenen einnistet, zumal wenn es sich, typisch Klischee, allüberall wiederfindet. (Diese tiefe Prägung ist ja in Bezug auf Kinderbücher die am häufigsten geäußerte und sicher am schwersten wiegende Folge.)

Zurück ins erste Kapitel. Hier wird der jämmerliche Anblick des Vikars Flachs beschrieben, wie dieser sich abmüht, als erster über den Tod des Erbonkels zu weinen. Der Vikar sehe dabei aus wie ein reitender Betteljude, mit dem ein Hengst durchgeht.

Nun war Betteljude zu Jean Pauls Zeit zwar ein stehender Begriff, der einen Ausschnitt der sozialen Realität genau bezeichnete. Selbstverständlich waren aber derlei Begriffe zugleich Ausdruck einer realen Exklusion und Diskriminierung.

Das muss einem Wortmetz (Arno Schmidt) wie Jean Paul klar gewesen sein. Noch dazu geht hier mit ihm – die kleine Retourkutsche möge er verzeihen – schlicht seine Obsession durch, unbedingt ein paradox-witziges Bild zu kreieren. Dies auf Kosten des Flachs (nomen est omen) und der Juden.

Vorläufiges Fazit

So wie die Schwedin Astrid Lindgren das Kinderbuch auf originellste Art von seinen schwarzpädagogischen alten Zöpfen befreite – und ihre Übersetzerin Cäcilie Heinig für das damals völlig unanstößige N-Wort keineswegs zu tadeln ist –, so erneuerte Jean Paul den Roman seiner Zeit, alle drei naturgemäß ohne dabei jede Begrenzung des Zeitgeistes ihrer Epochen überschreiten zu können. Im Unterschied zu Pippi Langstrumpf handelt es sich bei Jean Pauls Werken zudem um Erwachsenenliteratur. Man darf also den Bereich der Tolerierbarkeit heutzutage inakzeptabel erscheinender Worte ausweiten, da eine erwachsene Leserschaft immer die Zeitbedingtheit von Literatur im Blick zu haben vermag.

Ein Verzicht auf Revision, Entschärfung, Zensur potentiell brüskierender Passagen nimmt wohl oder übel die Folge in Kauf, dass Jean Paul von manchen heutigen LeserInnen in einen Topf mit so vielen anderen kleinen und, wie hier, großen Literaten aller Zeiten geworfen werden kann, die ihre Anspielungen, besonders die auf das Judentum, nicht so selbstkritisch hinterfragten, wie es im Jahre 2013 zumindest von deutschsprachigen AutorInnen zu fordern ist.

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Michael Lehmann ist Übersetzer, spezialisiert auf Neufassungen herausragender deutscher und englischer Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts. In modernem Deutsch, ungekürzt, für neue Lesegenerationen.

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